Jürgen Gansel, Landtagsabgeordneter Sachsen, Stradtverordneter Riesa, Kommunalpolitiker

Der Globalisierungstod des Bürgertums

Wie die Globalisierung die sozioökonomischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft zerstört

Die Auseinadersetzungen zwischen Neoliberalen und Sozialliberalen auf dem CDU-Bundesparteitag in Dresden warfen ein grelles Licht auf die tiefe Identitätskrise, in der sich die vorgebliche Volkspartei CDU befindet, seit ihr dämmert, daß Wertkonservatismus und Globalismus unauflösliche Zielkonflikte aufweisen. Die raumgreifende Verunsicherung der Kanzlerpartei verweist auf einen fundamentalen Prozeß, der unterhalb der Ebene von Parteiprogrammatik und Parteisoziologie stattfindet: die Auflösung des Bürgertums durch die Zerstörungsmacht der Globalisierung.

Sich weihevoll über die als Bürgertum idealisierte gebildete Mittelschicht auszulassen, gehört gleichermaßen zur Pflichtübung wie zur Königsdisziplin bundesdeutscher Feuilletonisten. In der Vergangenheit strahlten Beiträge zum Thema oft eine demonstrative intellektuelle Gelassenheit und snobistische Selbstbezüglichkeit aus, getragen von dem Glauben, daß das Bürgertum und seine Lebensformen Ewigkeitscharakter hätten.

Im Jahr 2006 waren aber immer mehr Stimmen zu vernehmen, die das Bürgertum durch die sich in alle Poren des Gesellschaftslebens hineinfressende Globalisierung existentiell bedroht sehen. In dem Beitrag „Kein Bürger mehr, nirgends“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wurde etwa festgestellt: „Die Debatte um den alten Stand reißt nicht ab. Übersehen wird dabei gern, daß ein echtes Bürgertum ökonomische Stabilität benötigt. Die aber ist heute dahin, und gefragt ist Flexibilität.“ Bemerkenswert offen analysierte das Blatt die penetranten Flexibilitäts- und Mobilitätsforderungen sowie die Anpassungs- und Wettbewerbsdiktate der Globalisierung, die die Grundlagen des bürgerlichen Berufs- und Familienlebens erschüttern. Zum zentralen Selbstwiderspruch heutiger Bürgerlichkeit im Spannungsfeld von Politik, Kultur und Ökonomie heißt es: „Im Überbau soll das neue Scheinbürgertum sich gebärden wie seine Vorgänger im Kaiserreich oder der Adenauerzeit, an der Basis soll es aber im Dumpingwettbewerb mit China und Indien mithalten.“

Daß der globalisierte Wettbewerb die bisherigen bürgerlichen Erwerbsbiographien gehörig durcheinanderwirbelt, beweist – im Gegensatz zum halluzinierten Arbeitsmarkt-Aufschwung – die massenhafte Vernichtung und Verlagerung selbst von hochqualifizierten Arbeitsplätzen. Nach einer Prognose des internationalen Beratungsunternehmens A.T. Kearney wird die deutsche Industrie in den nächsten fünf bis zehn Jahren mehr als 100.000 Arbeitsplätze in den betrieblichen Verwaltungsbereichen abbauen. Gründe für den massiven Stellenabbau sind der anhaltende Trend zur Optimierung der Arbeitsprozesse durch die globalökonomischen Kommunikationsmittel sowie die Verlagerung auch von hochwertigen Tätigkeiten in Niedriglohnländer. Dies betrifft Spitzenunternehmen der deutschen Schlüsselindustrien Automobil, Stahl, Pharma, Energie, Chemie und Telekommunikation.

Ein konkretes Beispiel für den Export von Arbeitsplätzen, die hierzulande bis jetzt idealtypische bürgerliche Erwerbsverläufe ermöglichten, liefert die Deutsche Bank. Das gar nicht mehr so deutsche Bankhaus erwirtschaftet Rekordgewinne und verlagert gleichzeitig in fast aggressiver Weise hochqualifizierte Arbeitsplätze nach Indien. In Bombay und Bangalore entstehen momentan riesige Verwaltungszentren. Allein in den drei Tochtergesellschaften GMC, DNETS und DBOI werden im Jahr 2007 über 4.000 Inder arbeiten. Mitte der neunziger Jahre hatte die Deutsche Bank nur einzelne IT-Dienstleistungen in Indien angesiedelt, doch die heutige Globalisierungswelle trifft mit Wucht auch die Kernbereiche des Geldhauses. In der Wertpapierabteilung soll mittelfristig mehr als ein Drittel der Stellen in Billiglohnländer ausgelagert werden. Schon heute überprüfen in der philippinischen Hauptstadt Manila bei der Tochtergesellschaft Deutsche Knowledge Services mehrere hundert Controller die Buchungsvorgänge des Hauses und bewerten die Wertpapierentwicklung.

Selbst Teile der Personalabteilung der Deutschen Bank sind von Abwanderung bedroht. Das ist Globalisierung brutal, die bei den Geschädigten auch zu handfesten mentalen Krisen und seelischen Verwundungen führen muß: Mitarbeiter der Personalabteilung haben als technokratische Kostensenker die Verlagerung ganzer Unternehmenssparten ins Ausland vorzunehmen und langjährigen Kollegen aus Nachbarabteilungen den Arschtritt der Kündigung zu verpassen. Am Ende müssen sie sich noch selbst das Kündigungsschreiben ausstellen, weil auch Teile der eigenen Personalabteilung in Deutschland abgewickelt werden. Der Spiegel zitierte einen Bereichsleiter der Deutschen Bank, der die globalistische Killerlogik auf den Punkt bringt: „Ein sehr gut ausgebildeter Hochschulabgänger in Indien kostet mich inklusive aller Nebenkosten 10.000 Euro, ein gleich ausgebildeter Deutscher 100.000 Euro“. In diesem rigiden Rentabilitätsdenken ist der deutsche Landsmann nur noch ein reiner Kostenfaktor, der durch den exotischen Billiglöhner ausgetauscht wird und mit keinerlei nationaler Solidarität der Konzernleitung mehr rechnen kann.
Der Spiegel sieht deshalb größtes Ungemach heraufziehen: „Das Beispiel der größten deutschen Bank zeigt, was der Kreditbranche bevorsteht: ein radikaler Schwund qualifizierter Arbeitsplätze. Auch Bankmitarbeiter müssen künftig die Konkurrenz aus Fernost fürchten. Nach dem Marktführer werden andere Finanzdienstleister auf den Trend aufspringen.“

Aber nicht nur berufserfahrene Leistungsträger finden sich plötzlich auf der Selektionsrampe der Globalisierung wieder. Das Problem setzt schon früher ein – beim Berufseinstieg junger und qualifizierter Hochschulabsolventen, die alles das vorweisen können, was Personalchefs eigentlich in Verzücken versetzt. Dem Spiegel war das heikle Thema sogar die Aufmachergeschichte „Generation Praktikum – Jung, gut ausgebildet, fleißig – und ein fester Job in weiter Ferne“ wert. Dabei geht es nicht mehr darum, daß sich Hochschulabgänger bis zum ersten festen Arbeitsverhältnis mal ein paar Monate mit Taxifahren oder Kellnern über Wasser halten müssen. Es hat sich vielmehr eine neue Ausbeutungsform etabliert: Unternehmen stellen für Berufseinsteiger von vornherein keine festen, sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze mehr zur Verfügung, sondern lassen die Arbeit von gut ausgebildeten, aber mies bezahlten „Praktikanten“ mit befristeten Arbeitsverträgen erledigen. So ist der Typus des jungakademischen, armutsgefährdeten und lebensverunsicherten Multi-Jobbers entstanden, der die Umzugskisten immer griffbereit haben muß, um irgendwo eine neue Praktikantenstelle an Land zu ziehen.

Nach einer Studie der Hans Böckler Stiftung zu „atypischen Beschäftigungsverhältnissen“ in Deutschland gab es 1993 4,9 Mio. Teilzeitbeschäftigte und 2004 schon 7,2 Mio. (plus 46 Prozent), 1993 wurden 1,8 Mio. befristet Beschäftigte gezählt und 2004 2,2 Mio (plus 25 Prozent). 1993 gab es gerade einmal 121.000 Leiharbeiter, im Jahr 2004 waren es bereits 400.000, was einer Steigerung von 231 Prozent entspricht.

Diese prekären Arbeitsverhältnisse sind eine direkte Folge der Durchglobalisierung der Wirtschaft. Der Soziologe Hans-Peter Blossfeld hat für seine Studie „Globalife“ die Lebensverläufe junger Erwachsener in Deutschland und anderen OECD-Staaten untersucht und kommt zu dem Ergebnis, daß die Jungen – denen nach neoliberaler Propaganda doch ganz Kosmopolis zu Füßen liege – die Hauptverlierer der Globalisierung sind. „Es scheint paradox“, erklärt Blossfeld, „zum einen sind diese jungen Leute ja viel mehr auf die Internationalisierung eingestellt als frühere Generationen: Sie sprechen viele Fremdsprachen und haben viel mehr Auslandserfahrung. Aber auf der anderen Seite haben sich durch die Globalisierungsprozesse die Beschäftigungsverhältnisse der jungen Leute radikal geändert.“

Das hat in zweierlei Hinsicht fatale Auswirkungen auf die demographische Entwicklung und damit die Bestandssicherung des deutschen Volkes. Die völlig aus den Fugen geratene Arbeitswelt – kreisend zwischen Einkommensarmut, Planungsunsicherheit und Heimatlosigkeit – führt zu einer dramatischen Auswanderung und Kinderlosigkeit gut ausgebildeter Deutscher. Längst ist ein systematischer Bevölkerungsaustausch im Gange, der dem Wolfsgesetz eines Weltarbeitsmarktes folgt, auf dem 6,5 Milliarden Menschen in einen ruinösen Dumpingwettbewerb getrieben und als „Ware Mensch“ willkürlich hin- und hergeschoben werden. So geht deutsche Intelligenz zunehmend ins Ausland, während ausländische Dummheit mit sozialschmarotzerischen Neigungen ungebremst ins Land kommt.

Die deutsche Volkssubstanz wird neben der Auswanderung guter Köpfe durch den andauernden Geburtenboykott der vielen beruflich „Gestrandeten“ geschwächt. Laut der Studie „Berufsmobilität und Lebensform“ des Soziologen Norbert Schneider sind die zu unsteten Nomadenexistenzen führenden Arbeitsverhältnisse mit einem rasanten Anstieg von Fernbeziehungen verbunden. Jeder zehnte der 25- bis 35-jährigen Deutschen führt wegen der krisenhaften Arbeitsmarktlage eine Wochenendbeziehung, von denen weit über 90 Prozent kinderlos bleiben. Wie die Robert Bosch Stiftung ermittelte, ist soziale Sicherheit die wichtigste Bedingung für die Erfüllung eines Kinderwunsches. Dieser Befund straft das Geschwätz der Systempolitiker Lügen, die die niedrige Geburtenrate der Deutschen allein mit einem Wertewandel erklären, um von ihrem sozialpolitischen Versagen abzulenken. Für 57 Prozent der 20- bis 49-jährigen Deutschen ist die Unsicherheit ihres Arbeitsplatzes der Hauptgrund ihrer Kinderlosigkeit.

Das Wirtschaftswunderland Deutschland ist abgebrannt – auch für Volkswirte, Ärzte und Naturwissenschaftler, die bislang eine sichere Berufsperspektive im Abonnement zu haben schienen. Der Soziologe Ulrich Beck sieht in den prekären Arbeitsverhältnissen von Hochschulabsolventen ausdrücklich kein vorübergehendes Globalisierungsphänomen, sondern eine Dauererscheinung und spricht von einem eingetretenen „Generationsbruch“. Was für ihre Eltern selbstverständlich war, ist für die Jungen trotz Qualifikation, Fleiß und Mobilität immer unerreichbarer: der bürgerliche Traum von Arbeit, Haus und Familie. Beck sieht auf diese Generation größte Desillusionierungen zukommen: „Bisher mußten die Jungen weder für die Demokratie noch für Wohlstandsperspektiven kämpfen. All das wurde ihnen sozusagen geschenkt. Doch nun müssen sie erkennen: Es geht nicht nur aufwärts, diese Gesellschaft fährt im Fahrstuhl nach unten, und wir sind die Generation des Weniger.“ Bezeichnenderweise läßt der Soziologe die Frage unbeantwortet, warum dieser zukunftsgeprellten Generation die vermeintliche Demokratie auch nur einen Pfifferling wert sein sollte. Früher waren Gesellschaftssysteme reif für politische Umwälzungen, wenn sie dem Volk nichts mehr zu bieten hatten als den kollektiven Abstieg. Immerhin gibt Beck zu: „Auch hierzulande kann ein Protestfunke zünden. Wenn die schwierige Integration in die Arbeitswelt für eine Generation als Kollektivproblem sichtbar wird, kann das sofort zum politischen Thema werden.“

Politisch schlägt sich die Zukunftsunsicherheit des gebildeten Mittelstandes erst einmal nur in der Erosion der „Volksparteien“ CDU/CSU nieder. Die Globalisierung unterspült die Fundamente der bürgerlichen Gesellschaft und raubt den Unionsparteien damit auch ihre strukturelle Mehrheitsfähigkeit. Heiner Geißler (CDU) rechnet vor: „Setzt man das Wahlergebnis der Union in das Verhältnis zu den Wahlbürgern insgesamt, also zu den Wahlberechtigten, dann war seit 1953 die Zustimmung zur Union nie so gering wie bei der Bundestagswahl 2005. Nur etwas mehr als ein Viertel aller Wahlberechtigten (26,9 Prozent) gaben der Union ihre Zweitstimme.“

Die Bindekraft der CDU/CSU schwindet rasant, weil sie selbst alles erdenkliche dafür tut, die sozioökonomischen Grundlagen des sie bislang tragenden Bürgertums abzuschaffen. Die herunterliberalisierte Union wird mit den Globalisierungs-Widersprüchen nicht fertig, die auch das Selbstverständnis des Bürgertum erschüttern, und sie wird für die Erschütterungen zu recht in Mithaftung genommen.

Die Berufseinsteiger sollen die Renten sichern und ihre private Alters- und Krankenvorsorge organisieren; sie sollen konsumieren und Familien gründen und gleichzeitig Studienkredite zurückzahlen; und sie sollen politisch einem System ergeben sein, das ihnen nichts als die Verwaltung des Niedergangs zu bieten hat. Und die Älteren, die noch einen geregelten Berufseinstieg geschafft haben, haben mit der Auflösung alter Gewißheiten zu kämpfen. Die überlieferten Wohlstandsversprechen bleiben unerfüllt, weil sich der Zusammenhang von Arbeit und sozialer Sicherheit, von Tüchtigkeit und sozialem Aufstieg auflöst. Persönliche Leistungsbereitschaft schafft oftmals keinen gesicherten Lebensstandard mehr, was der Aufkündigung des bürgerlichen „Gesellschaftsvertrages“ gleichkommt. Die Berufstätigen sollen ihre Familien durchbringen und ihre Kinder gut erziehen, werden durch die Forderung nach ständiger zeitlicher Verfügbarkeit aber ihren Familien entfremdet. Sie sollen als grenzenlos mobile Arbeitsnomaden zur Verfügung stehen und trotzdem „Standortpatrioten“ sein und hier ihre konfiskatorischen Steuern zahlen. Die Marktforderungen nach allumfassender Flexibilität und Mobilität sind Vernichtungsschläge gegen die konservativen Urwerte von Heimat, Volk und Vaterland, von Familie, Ordnung und Sicherheit.

Dem sehen die modernisierungswütigen Unionsparteien aber nicht nur untätig zu, sondern öffnen die letzten verschlossenen Fenster des „Deutschland-Hauses“, um den eiskalten Wind der Globalisierung auch noch durch die letzten Zimmerecken pfeifen zu lassen. Schon bei der Landtagswahl 2008 in Bayern wird sich zeigen, daß die CSU das im Freistaat beträchtliche nationalkonservative Potential nicht mehr wird binden können und damit eine offene Flanke für den politischen Nationalismus bietet.

Das Bürgertum wird fortan Verlustängste, Abstiegssorgen und Statusverluste mit den kleinen Leuten teilen und auch deshalb die Volksgemeinschaft als Not- und Schutzgemeinschaft der zahllosen Globalisierungsopfer ihre Wiederauferstehung erleben. Die regierenden Neoliberalisten können sicher sein, daß es politische Folgen haben wird, wenn das Bürgertum aufgrund eigener Deklassierung als Trägerschicht ihres Systems wegbricht. Jeder nüchterne Betrachter der deutschen Nachkriegsgeschichte weiß doch, daß nur der Massenwohlstand der Kitt war, der diese materialistische Gesellschaft zusammenhielt und nicht etwa das geheiligte Grundgesetz oder Fetischbegriffe wie Menschenrechte, westliche Wertegemeinschaft oder Zivilgesellschaft. Der Wohlstand als politischer Stabilitätsgarant und Akzeptanzspender schmilzt unter der Glutsonne der Globalisierung nun aber wie Schokolade in der Sahara. Im November 2006 wurde für den ARD-Deutschlandtrend die rhetorische Frage gestellt: „Geht es in Deutschland alles in allem eher gerecht zu?“. Die für die politische und wirtschaftliche Klasse vernichtende Antwort lautet: nur 27 Prozent der Befragten meinen, es gehe „eher gerecht“ zu, 66 Prozent finden es „eher ungerecht“ in der BRD, von den Mitteldeutschen beklagen sogar 76 ein Gerechtigkeitsdefizit. Als hätte diese Einschätzung noch untermauert werden müssen, gab das Statistische Bundesamt im Dezember bekannt, daß in Deutschland mehr als zehn Millionen Menschen arm oder armutsgefährdet sind. Eine Schande angesichts des hemmungslosen Geldabflusses an Ausländer und das Ausland!


Den Vormarsch des Nationalismus können die Kräfte der Antination zwar noch hinauszögern, aber nicht mehr aufhalten. Dafür erodiert in der Globalisierungsära einfach zu viel von dem, was das Volk bisher mit dem System versöhnte: nämlich Arbeit, Würde, Sicherheit und Heimatgeborgenheit.

Jürgen Gansel
(MdL Sachsen)

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